Das Wort Baukultur ist in aller Munde. Heute wird dadurch Bauen ganz selbstverständlich mit Kultur verknüpft. Wie ich vor Kurzem in einer Präsentation unserer neuen Kantonsbaumeisterin Frau Wittwer Joos hören durfte, war dies bis vor ein paar Jahren jedoch noch keine Selbstverständlichkeit. Bauen wurde klar als Handwerk verstanden, welches mit der Kultur – damit war automatisch die Kunst gemeint – nichts zu tun hatte. Als junge Architektin bin ich darüber wirklich erstaunt. Es ist für mich selbstredend, dass bauen immer ein kultureller Akt ist.
Das Glarnerland hat Potenzial für eine hohe Baukultur und eine identitätsstiftende und ausdrucksstarke Kulturlandschaft. Unsere industriell geprägten Dörfer, eingebettet in die imposante Tallandschaft, sind einzigartig. Das historische Erbe ist reich und der aktuelle Entwicklungsgeist innovativ. Wir könnten deshalb auch im Bereich Baukultur eine Vorreiterrolle einnehmen und die 2018 verabschiedete internationale Deklaration für Baukultur früher als andere umsetzen.
Aktuell sind wir jedoch weit davon entfernt. Das Gesicht des Kantons Glarus hat sich in den letzten Jahrzehnten merklich verändert. Die Summe aller baulichen Tätigkeiten und Veränderungen in den letzten Jahren zeigt eine ähnliche Entwicklung wie im Mittelland. Dort reihen sich immer gleiche Einfamilienhäuser ohne Ortsbezug und massstabslose Gewerbehallen entlang der nationalen Infrastruktur aneinander. Dieser einheitliche Siedlungsbrei breitet sich von Schlieren, über Grenchen bis nach Bellinzona aus, und nun beginnt er im Tal in Richtung Tödi zu fliessen. Wer heute durchs Glarnerland fährt, trifft auf unklare Ortseingänge, anonyme Neubauprojekte, rasantes Wachstum vorne und gähnende Leere hinten im Tal. Es scheint, entlang der Hauptstrasse von Niederurnen bis Linthal werde dem Erscheinungsbild des Ortes zu wenig geschenkt. Einstige Plätze werden zu Parkplätzen, abgegangene Gebäude hinterlassen Spuren, und neue Bauten erfüllen zwar die Massvorschriften gemäss Baureglement, stehen aber oft bezugslos im Raum.
Wollen wir so wirklich weitermachen und die Chance verspielen, dass unsere gebaute Kulturlandschaft zu einem Anziehungspunkt, ja gar zu einem Aushängeschild fürs Glarnerland wird?
Wir haben alles, was es braucht, um diese Möglichkeit zu nutzen: Im Gegensatz zu vielen Orten im Mittelland ist es hier noch nicht zu spät. Die Glarner Dörfer haben ihre Chance noch nicht verspielt. Viele bauliche Entwicklungen finden hier später statt als im Rest der Schweiz. Dies ermöglicht es uns, von den Fehlern der anderen zu lernen. Unser aktueller baulicher Entwicklungsstand birgt das grosse Potenzial, nun vieles wettzumachen.
Weiter haben wir den Vorteil der kurzen Wege. Die geringe Grösse unseres Kantons in Kombination mit der Fusion auf drei Gemeinden ermöglicht viel direkten Kontakt. Die Anzahl involvierter Personen ist überschaubar. Man kennt sich. Für baukulturelle Entscheidungsprozesse könnte dies ein entscheidender Vorteil sein.
Schliesslich bringen wir Glarnerinnen und Glarner die besten Voraussetzungen für die nötigen Prozesse mit. Es wird uns in die Wiege gelegt, sich gemeinsam und in gegenseitigem Respekt für unser reiches kulturelles Erbe, unsere einzigartige Landschaft und selbst unmöglich scheinende Visionen einzusetzen. Dies zeigen wir jedes Jahr an der Landsgemeinde.
Nur gemeinsam können wir die aktuelle Chance nutzen. Wenn Sie also das nächste Mal ein Bauprojekt anstossen, tun Sie dies im Bewusstsein der Veränderungen in der Glarner Kulturlandschaft, welche damit ausgelöst werden. Wenn wir mit dem gleichen ehrwürdigen Respekt, mit dem wir an jedem ersten Sonntag im Mai mindern und mehren, auch bauen, dann können wir es schaffen eine hohe Baukultur im Glarnerland zu etablieren.
Nina Cattaneo ist Architektin und Bauberaterin des Glarner Heimatschutzes.
Für eine hohe Baukultur im Kanton Glarus
Erschienen am 16. März 2022 in «Die Südostschweiz»